Der Weg zu mir zurück

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Ich bin als das jüngste Kind einer sechsköpfigen Familie wohlbehütet im Haus in einer Kleinstadt in Niedersachsen aufgewachsen. Der Kindergarten und die Grundschule waren so nah, dass ich mich bereits mit 5 Jahren alleine auf dem Weg machen konnte. Der Haselnussbaum hinterm Haus und der Gartenteich waren nach der Schule für mich lange die wichtigsten Orte, um mich zu entspannen. Marienkäfer, Meisen und die Goldfische hatten richtig gute Gesprächspartner-Qualitäten, die hörten zu und ich hatte das Gefühl, alles sagen zu können. Bis zu meinem Abitur kamen da auch noch viele menschliche Freunde hinzu, ich war immer gut eingebunden, fröhlich, beliebt, sportlich sehr aktiv und hatte zufriedenstellende Leistungen.

Jede Ferien ging es mit der ganzen Familienbande zum Campen quer durch Europa. Ich mochte vor allem die unterschiedlichen Gerüche und Landschaften der Länder, die wir bereisten; ich verliebte mich in Kroatien in das Geschreie von Schwalben und ging vor lauter Staunen in Paris verloren.

Ja ich erinnere mich noch genau daran, dass ich in Momenten versank und die Welt um mich herum einfach nur schön fand.

Als Nesthäkchen durfte ich oft einfach nur Sein, mich mitziehen lassen und war einfach in dem Vertrauen, dass alles gut wird.

Mit 9 Jahren kam ich zum ersten Mal subtil mit dem Gefühl der Angst in Kontakt. Ich nahm die Katastrophen in der Welt und unheilbare Krankheiten bei Menschen wahr, das meiste über das Fernsehen transportiert. Da konnten meine Heldinnen Heidi und Pipi Langstrumpf irgendwie nicht entgegenwirken. Es schien mir richtig gewaltig zu sein und ich ein ohnmächtiger Teil davon. Das Engegefühl in meiner Kehle und das unangenehme Kribbeln im Bauch konnte ich nirgendwo zufriedenstellend platzieren, ich konnte ja nicht erklären, warum es da war. Und somit blieb ich damit, meine Glaubenssätze formierten sich und meine Angst suchte sich einen heimlichen Platz.

Heute weiß ich, dass wir in Deutschland weder im Bildungssystem noch in der Gesellschaft öffentlich über Gefühle sprechen können und die Fähigkeit zu fühlen, spüren und zu benennen ziemlich verkümmert ist. Das haben wir uns über Generationen hinweg herangezüchtet. Ich kann heute der kleinen Katharina sagen, dass es damals keiner besser gewusst hat. Und das hilft.

Weitermachen und nicht still stehen

Was damals half, um über meine nicht gefühlten Gefühle hinwegzukommen war, einfach weiterzumachen und nicht still zu stehen. Somit zog ich meine Ausbildung durch bis zum Diplom in den Erziehungswissenschaften.

Während der Abschlussprüfungen überkam mich wieder dieses Engegefühl im Hals, das ich von früher kannte. Zusätzlich wurde mir des Öfteren schwindelig, vor allem direkt vor und in den Prüfungen. Dennoch war der Wille stark, es fertig zu bringen. Nachdem ich den Termin für die letzte Prüfung verhandelte, wachte ich mit Atemnot, brennender Haut und Schweißausbrüchen auf. Ich ging zum Arzt, der mir Cortison verschrieb und mich nach Hause schickte.

Ein paar Wochen später stand ich zu Weihnachten in der Kirche und dachte mir, sterben zu müssen. Ich konnte kaum atmen, behielt es aber für mich. Schließlich hatte ich gelernt, dass das nicht platziert werden kann. Ich biss die Zähne zusammen und war seitdem mit dem Zurückhalten dieses Scheiß-Gefühls beschäftigt. Erst 3 Jahre später begriff ich, dass ich enorme Angst davor hatte, das sichere System zu verlassen und auf mich allein gestellt zu sein. Ich machte trotzdem weiter (was gab es sonst für eine Wahl?).

Ich strahlte wie ein Leuchtturm im Krisenmeer

6,5 Jahre verbrachte ich anschließend im Bildungssystem Berlin. Nachdem ich mich im Studium viel mit den sogenannten Problemjugendlichen beschäftigt hatte, wollte ich dieses “gesellschaftliche Übel” kennen lernen. Da war ich in Berlin gut aufgehoben. Nach 6 Monaten geballter Ladung nicht ausgelebter Wut, entschied ich mich doch für die Grundschule. Als Schulsozialarbeiterin fand ich meinen Platz und strahlte wie ein Leuchtturm im Krisenmeer. Ich liebte es zu helfen und fand die menschlichen Krisen und Konflikte überaus interessant, da sie die größtmögliche Chance für eine Veränderung beinhielten. In einer sinnvollen Tätigkeit, in eigenen Strukturen und als Teil eines herzoffenen, multikulturellen Teams empfand ich mich in einer äußerst glücklichen Lage einer Arbeitnehmerin wieder.

Auch die Schulinspektion lobte meine Arbeit außerordentlich, während das pädagogische Sediment der Schule an sich arbeiten musste. In diesem Zuspruch auf ganzer Linie bemerkte ich in meiner freudvollen Aktivität gar nicht, wie sehr ich mich verausgabte und erhielt nach gut 4 Jahren die Quittung: Hörsturz, Tinnitus, Angstzustände, Nervenzusammenbruch, depressive Verstimmtheit, Erschöpfung… im Nachhinein betrachtet war das wohl ein Burnout. 14 Tage lang horchte ich dann zum ersten Mal länger in mich hinein und verstand gar nichts. Das machte mir zusätzlich Angst. Ich ging anschließend wieder arbeiten, unterstützt durch eine Psychotherapeutin und lernte vor allem mich abzugrenzen.

Seitdem war ich sensibel: Geräusche, lange Arbeitstage, das ständige Verlangen nach mir… Ich wollte dennoch eine gute Arbeitnehmerin sein; wie auch eine liebevolle Partnerin, eine präsente Tochter, eine verlässliche Freundin, eine attraktive Frau. Niemand sollte sehen, dass ich schwach war und ich da was in mir nicht verstand, ich schob es auch vor mir selbst weg.

Ich war altruistisch, nach außen orientiert und spürte dann während eines Achtsamkeitstrainings, dass ich mich wenig spürte. Das Training präsentierte mir die Angst, die ich seit der Kindheit nicht platzieren konnte. Ich verstand erstmals grundlegend, was dieses Gefühl überhaupt will und soll und alles auslösen kann… und vor allem meine ganzen gesundheitlichen Zustände. Mein Körper signalisierte mir die ganze Zeit: hier möchte etwas gesehen und gefühlt werden.

Ich hatte keinen Plan, außer mir zu begegnen

Im Sommer 2015, einige Wochen nach dem Achtsamkeitstraining, lag ich in meiner 30-minütigen Mittagspause auf einer Bank an der Spree. Es war warm und bewölkt, manchmal zeigte sich die Sonne durch kleine blaue Löcher im Himmel. Mein Kopf sauste: “Wie viel kann man aushalten?” Die letzten Wochen hatten vieles in mir bewegt und ich vernahm leise, säuselnde Stimmen in mir. Ich schloss die Augen, atmete tief ein und aus und sah zurück in den Himmel. In diesen 2 Sekunden meines Blickes öffnete sich kurz die Wolkendecke und ich sah ein Flugzeug durchrauschen. Plötzlich sagte etwas in mir: Aufbruch… Freiheit. Ich wusste ganz klar, dass ich nicht mehr zurück konnte.

In diesem Moment legte sich ein Schalter um, von altruistisch auf egoistisch. Innerhalb eines Jahres machte ich Tabularasa, trennte mich von meinem Partner und vielen weitern Menschen, kündigte meinen sicheren Job und bereitete mich auf meine Freiheit vor. Ich hatte keinen Plan, außer mir zu begegnen. Ich erntete viel Gegenwind, Unverständnis, Missgunst, aber auch Bewunderung, Unterstützung und Fülle.

The Toolbox is you

Seitdem bin ich auf diesem Weg, dem Pfad meiner ganzheitlichen Gesundheit, meiner Bestimmung - mittlerweile weniger egoistisch und mehr beziehungsverträglich, selbstbestimmt, eigenmächtig, verbunden, energievoll, lebendig, in meinem Tempo und immer noch und immer wieder im Prozess. Ich spüre mich und meine Mitwelt wieder sehr fein. Und ich habe mir vor allem erlaubt, meine kindlichen Superkräfte zurückzuerobern: Feinfühligkeit, Staunen, Sinnlichkeit, Präsenz, Detailliebe, Lebenslust, Sein-Dürfen, Vertrauen ins Leben und in die Liebe. Die kleine Katharina habe ich nun immer an meiner linken Hand als erwachsene Frau, falls die Angst doch mal unverständlich bedrohlich wird.

Ich habe mich über die Jahre nicht nur mit dem Aufrichten meiner Selbst und der Ausrichtung meines Herzens beschäftigt, sondern in diesem Zuge auch mit dem Aufrichtig-Sein. Was glaube ich eigentlich über mich und was stimmt davon wirklich? Was ist meine Wahrheit und wer gibt mir vor wie zu sein? Und wohin geht es, mit wem und warum? Ganz ehrlich. Ich lebe in diese Fragen hinein und mein inneres Navi lässt mich Stück für Stück, ganz langsam das Puzzle der Antworten in ein Bild zusammenfügen. Mich damit zuzumuten, alles zuzulassen, was durch das aufrichtige Gehen entsteht, dem Leben zu vertrauen und mein Herz offen zu halten sind für mich die entscheidenden Werkzeuge.

Am Ende ist mir überaus wichtig zu sagen: Ich bin erwachsen und seitdem für mein Wohlergehen selbst verantwortlich. Ich bin frei und unabhängig und kann mich jeder Zeit darum bemühen. Alles was ich brauche ist in mir. Niemand anderes vor mir, neben mir, hinter mit trägt diese Verantwortung. Wir haben unsere Lebensaufgabe mitbekommen. Und indem ich mich darum aus vollem Herzen kümmere entsteht ein wahrhaftiges, mir entsprechendes, nährendes Umfeld.

Katharina Frilling

coaching & facilitation

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Transgenerationale Aufgaben